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Veranstaltung: Symposium: Schöpfer der zweiten Natur. Der Mensch im Anthropozän

26.–27.5.2014, Berlin, Denkerei

Konzeption: Arno Bammé, Bazon Brock

Der geochronologische Begriff des Anthropozäns, des Menschenzeitalters, wurde von dem Nobelpreisträger für Chemie, Paul Crutzen, geprägt. Er wollte damit ausdrücken, dass die Menschheit selbst inzwischen zu einem geologischen Faktor geworden ist. Das Anthropozän beginnt für ihn etwa um 1800 mit der einsetzenden Industrialisierung. Die mittels Wissenschaft und Technik bewirkten Umweltveränderungen, die durch eine schleichende subkutane Anreicherung von Schadstoffen in Böden und Grundwasser, in Pflanzen und in der Atmosphäre gekennzeichnet sind, äußern sich nicht nur in partiellen Umweltkatastrophen, sondern haben, weit darüber hinaus, die als Holozän bezeichnete zwischeneiszeitliche Epoche mit stabilen Klimaverhältnissen beendet, ein Tatbestand, für den es in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung gibt (Zalasievicz). Auch wenn Naturwissenschaftler zuerst darauf aufmerksam gemacht haben, so ist das Anthropozän doch nicht nur bzw. nicht so sehr ein geologisches Phänomen. So, wie die Eroberung der Welt in der Renaissance nicht primär ein kartographisches Unterfangen war, so ist das Anthropozän in seiner Substanz nicht ein vornehmlich geochronologisches, sondern ein kulturelles und damit ein sozialhistorisches Ereignis. In sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das Anthropozän, mit Blick auf seine Verursachung, vor allem ein technologisches Projekt. Mit der Technologie, die der Mensch entwickelt, um seinen Stoffwechselprozess mit der Umwelt zu regeln, verändert er nicht nur die Natur, sondern darüber hinaus sich selbst und die Gesellschaft, in der er lebt. Nahezu ins Unermessliche vergrößert er durch sie die Eingriffstiefe und -reichweite seiner Gestaltungskraft, seiner Handlungen in Raum und Zeit. Damit ist das Anthropozän ein Phänomen, das, um es zu begreifen, an der Schnittstelle von Sozial- und Naturwissenschaft zu verorten ist. In der Verknüpfung beider Forschungstraditionen liegt deshalb das größte wissenschaftlich begründete Forschungspotential in der Gestaltung der Zukunft des Raumschiffs „Erde“. Gelingt sie nicht, drohen Konflikte (Rinke und Schwägerl), nicht zuletzt in Form von Klimakriegen (Welzer). Denn der Klimawandel ist nicht nur ein meteorologisches Phänomen, sondern weit mehr das Resultat soziographischer und -ökonomischer Entwicklungen, um nicht zu sagen: Fehlentwicklungen.

Die Erkenntnis, die der Menschheit des Anthropozäns zunehmend zur Gewissheit wird, lautet: Es steht ihr nur diese eine Erde zur Verfügung. Sie darf von ihr nicht mehr verlangen, als sie zu geben imstande ist. Es gibt, anders als in vorkolonialen Zeiten, kein Außen mehr, das in einer Epoche größtmöglicher Konflikte, verursacht durch zunehmende Ressourcenknappheit, vor der Selbstzerstörung retten könnte. Für die Menschen früherer Zeiten stellte die Natur ein grenzenloses und darum ein schier unendlich belastbares Außen dar, das alle menschlichen Eingriffe zu ignorieren und zu absorbieren schien. Das ist heute anders. Wenn deshalb vom Anthropozän in einem sozialwissenschaftlichen Sinne gesprochen wird, dann kann damit nur gemeint sein ein Soziotop als Weltgesellschaft, das sich heute auf dem Raumschiff „Erde“ zu konstituieren beginnt. Die Synthese, die Einheit dieser Weltgesellschaft wird durch Technologie hergestellt, und sie wird technologisch geprägt sein. Man wird sich die Zukunft des Raumschiffs „Erde“ deshalb, wenn überhaupt, als einen riesigen Produktionsprozess, als eine Art „Weltfabrik“ (Schwägerl) vorstellen müssen, die nicht so sehr bestimmt sein wird durch die blinden Marktmechanismen und Imperative des „Bereichert Euch!“, sondern durch bewusst getroffene politische Entscheidungen und sachnotwendige Vorgaben.

Auch wenn vor dem Hintergrund dieser sich abzeichnenden Synthese einzelne Sozialwissenschaftler wie Moscovici, Dewey, Beck oder Latour darauf hingewiesen haben, dass der in der griechischen Philosophie wurzelnde abendländische Dualismus, der einen scharfen Trennstrich zieht zwischen der Natur auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite, obsolet geworden ist, pflegen die Sozialwissenschaften in ihrem Mainstream ihre antinaturalistische Attitude und halten am überkommenden Dogma fest, soziale, kulturelle und moralische Tatsachen seien eine Realität sui generis. Indem sie sich nach wie vor an einem forschungsleitenden Paradigma orientieren, das letztlich in der überlebten Tradition einer dichotomisch konzipierten Bewusstseinsphilosophie wurzelt, verharren sie in einem selbstgeschaffenen kulturalistischen Ghetto und ignorieren nicht nur den Erkenntnisstand der zeitgenössischen life sciences, sondern liefern zugleich ein Lehrstück dafür, wie das tradierte Selbstverständnis einer Wissenschaftsdisziplin, das historisch durchaus seine Berechtigung gehabt haben mag, an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung zur Selbstfesselung wird. Ein wesentliches Ziel des diesjährigen Symposions wird deshalb darin bestehen, einen sozialwissenschaftlichen Anschluss herzustellen an die bestehende Diskussion über Voraussetzungen, Charakteristika und Folgen des Anthropozäns (Crutzen, Davies, Ehlers, Mastrandrea, Schneider, Schwägerl, Sloterdijk, Zalasiewicz), um in sozialwissenschaftlicher Perspektive und Diktion Zusammenhänge, die in gesellschaftlichen Faktoren vor allem ihre Ursache haben, problemadäquat reformulieren zu können.

Siehe auch den Abschnitt "Imitatio Christi" in: Bazon Brock: Der Künstler als gnadenloser Konkurrent Gottes. In: Der Barbar als Kulturheld. Köln 2002: http://bazonbrock.de/werke/detail/?id=12&sectid=125

Programm

Montag 26. Mai 2014
18.30 – 19.00 Uhr
Arno Bammé (Klagenfurt) und Bazon Brock (Berlin/Wuppertal): Begrüßung und Einführung in die Thematik

19.00 – 19.45 Uhr
Christian Schwägerl (Berlin): Das Anthropozän – eine neue Perspektive auf einen neuen Planeten

Die Menschheit ist dabei, den Planeten „Erde“ in einem atemberaubenden Tempo umzugestalten. Von molekularen Eingriffen in Mikroorganismen über die Umwandlung von Materialflüssen bis hin zu ausufernden Stadtlandschaften und globalen Klimaveränderungen – all das hat völlig neue Existenzweisen dessen, was wir bisher „Natur“ genannt haben, zur Folge, Existenzweisen, die eingebunden sind in ein Netzwerk menschlicher Vernunft und Praktiken. Dieses Prozessgeschehen ist Ausdruck einer neuen geologischen Epoche, des Anthropozäns. Es äußert sich in reziproker, bisher nie da gewesener Form: So wie sich Natur in Kultur auflöst, so löst sich Kultur in Natur auf. Mentale Landkarten und Ideologien, die sich in Wissenschaft und Gesellschaft über Jahrhunderte hin entwickelt haben, brechen in sich zusammen und werden obsolet. Wird es deshalb in naher Zukunft eine Wissenschaft der Neurogeologie geben müssen?

Christian Schwägerl, ein Berliner Journalist, der für GEO, Cicero und Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreibt, hat als Korrespondent gearbeitet für die Berliner Zeitung (1997-2001), FAZ (2001-2008) und DER SPIEGEL (2008-2012). Er ist Autor der Bücher „Menschenzeit“ (2010) und, gemeinsam mit Andreas Rinke, „Elf drohende Konflikte“ (2012). Schwägerl ist Mitbegründer des Anthropozän-Projekts im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) und der bevorstehenden Anthropozän-Ausstellung im Deutschen Museum in München, für die er als externer Kurator arbeitet.

Vortrag fällt aus:

20.00 – 20.45 Uhr
Christian Lauk (Wien): Das Ende der Freiheit? Gesellschaftliche Optionen in einer Ära schwindender Ressourcen

Auf das nahe Ende des fossilen Energie-Regimes reagieren Politik und andere gesellschaftliche Institutionen mit einer Strategie der ökologischen Modernisierung. Erneuerbare Energien und Effizienztechnologien sollen durch „grünes Wachstum“ den Übergang von der liberal-sozialen zur öko-sozialen Marktwirtschaft ermöglichen. Doch nicht nur der Flächen- und Materialbedarf eines erneuerbaren Energiesystems, auch die Zeit, die für seinen Ausbau benötigt wird, stellen die Viabilität (Durchführbarkeit, Lebensfähigkeit) einer solchen Strategie in Frage. Wie aber sehen die Alternativen aus? Müssen wir uns zwischen einer Art ökologischer Kriegswirtschaft, in der Ressourcen durch einen autoritären Staat rationiert werden, und dem gesellschaftlichen Kollaps entscheiden, wie das zwei deutsche Öko-Bestseller nahelegen? Oder ist eine Gesellschaft, welche das Prinzip der individuellen Autonomie in den Mittelpunkt stellt, auch (oder gerade) in einer postfossilen Ära denkbar?

Dr. Christian Lauk, Studium der biologischen Wissenschaften in Freiburg (Breisgau) und Wien zum Mag. rer. nat., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziale Ökologie der Alpen-Adria-Universität in Wien. 2013 war er Fellow am „Integrative Research Institute for the Transformation of Human Environment Systems“ der Humboldt-Universität in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Bereiche des gesellschaftlichen Stoffwechsels und der Landnutzung. Sein besonderes Interesse gilt den gesellschaftlichen Perspektiven in einer postfossilen Ära.

21.00 – 21.45 Uhr
Tanja Paulitz (Aachen): Wer weiß, was Technik ist? Historisch-epistemologische Perspektiven auf die Schöpfer der zweiten Natur

Im Zentrum des Beitrags steht die Klärung der historisch-epistemologischen Perspektive, die einer kritischen Beschäftigung mit Technik und technischer Kultur zugrunde liegt, mithin das Wissen über Technik. Dabei geht es gleichermaßen sowohl um das Problem der Konstituierung von Subjekten wie um das von Objekten im Rahmen einer interdisziplinären Technikforschung, etwa: Was genau kommt als Gegenstand in den Blick und was nicht? Wer wird Subjekt des Handelns und damit als Teil des Akteur-Spektrums einbezogen und wer nicht? Wo liegen, im Sinne Foucaults, die Grenzen des Denk- und Sagbaren? Wie ist die Genese der Technik als spezifischer Bereich der modernen Gesellschaft zu verstehen?

Dr. Tanja Paulitz ist Professorin am Institut für Soziologie der RWTH Aachen. Sie lehrt und forscht aus diskurs- und praxistheoretischer Perspektive in den Bereichen Geschlechterforschung, Wissenschafts- und Technikforschung, Professionalisierung und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Thematische Kristallisationspunkte bilden aktuell die „Genealogie der wissenschaftlich-technischen Moderne“, „Männlichkeiten und Technik“, „akademische Wissenskulturen“, „Netzwerke und Technologien des Selbst“. Paulitz ist Autorin des Buches „Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften“.

Dienstag 27. Mai 2014

19.00 – 19.45 Uhr
Renate Hübner (Klagenfurt): Energie – die Welt(macht) zwischen Mensch und Natur

Materielle Güter sind Energie. Materielle Güter sind „kultivierte“, man könnte auch sagen „vergewaltigte“ Natur. Materielle Güter sind sozusagen zweite Natur, von Menschen in Bedürfnisantworten gebrachte Natur. Voraussetzung dafür ist die Beherrschung von Energieumwandlungsprozessen, die dafür unumgänglich sind, mittels Technologie, ebenfalls kultivierte bzw. vergewaltigte Natur. Erst diese verleiht dem Menschen eine ungeahnte Macht über die erste Natur. Energie ist somit nicht nur ein komplexes physikalisches Konzept, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Energie wird dadurch zu einer bunten Angelegenheit mit detektivischem Potenzial, wie am Beispiel des Konzepts der „grauen Energie“ gezeigt werden kann. Wer darüber Bescheid weiß, kann sich bewusster an der Erhaltung – oder auch Vernichtung – der ersten Natur beteiligen. Merkmal des beginnenden anthropozänischen Bewusstseins ist möglicherweise eine die menschliche Zukunft bestimmende Weg-Gabelung: sich zwischen der neuen Angst um die Natur und der alten Angst vor der Natur entscheiden zu müssen.

Dr. Renate Hübner ist Ass.-Prof. am Institut für Interventionsforschung und Kulturelle Nachhaltigkeit der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die angewandte Nachhaltigkeitsforschung, der ökologische Umgang mit materiellen Gütern sowie normative Rahmenbedingungen und Nachhaltigkeit.

20.00 – 20.45 Uhr
Matthias Wieser (Klagenfurt): Wenn Gaia zürnt

Anmerkungen zu Bruno Latours „geostories“, oder eine ökologische Kritik, die keine sein will
Angesichts der ökologischen Krisen der Gegenwart ist es – folgt man dem französischen Soziologen Bruno Latour – an der Zeit, sich von einigen Gewissheiten der Moderne zu verabschieden, beispielsweise von der Vorstellung, dass die Wissenschaft unsere Probleme lösen wird oder dass die Politik handlungsmächtig ist. Antrieb dabei ist ihm weniger die Erkenntnis, dass der Mensch das neue, gegenwärtige Erdzeitalter prägt, sondern dass es die Menschen nicht allein sind. Zwar ist es mit der Objektivität der Natur vorbei und deshalb höchste Zeit, aus Tatsachen wieder Dinge von öffentlichem Belang zu machen. Aber erst vor dem Hintergrund der Distribution von Handlungsfähigkeit und Handlungsträgerschaft („agency“), der Neuverteilung von Objektivitäten und Subjektivitäten, welche die vermeintliche Kluft zwischen Natur und Kultur schließt, ist eine Kosmopolitik möglich. Der Beitrag wird anhand von ausgewählten Beispielen einen Überblick über Latours politische Ökologie geben.

Matthias Wieser ist Ass.-Prof. am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er studierte Soziologie und Cultural Studies in Aachen, London und Klagenfurt. Vor seinem Wechsel nach Klagenfurt war er am Institut für Soziologie der RWTH Aachen beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden Medien- und Kultursoziologie, Cultural Studies und Science and Technology Studies. Er ist Autor des Buches „Das Netzwerk von Bruno Latour“ ( 2012).

21.00 – 21.45 Uhr
Wilhelm Berger (Klagenfurt): Technik, Politik und das Theater der Apokalypse

In seinem Klassiker "Versuch über die menschliche Geschichte der Natur" entwickelt der französische Sozialpsychologe und Wissenschaftshistoriker Serge Moscovici das Konzept einer "Politischen Technologie". Der deutsch-amerikanische Logiker Gotthard Günther hat in seinem Text "Die amerikanische Apokalypse" einen geschichtsphilosophischen Entwurf der abendländischen Technologie hinterlassen. Der Beitrag wird versuchen, beide Konzepte für die gegenwärtige sozialhistorische Umbruchssituation zu aktualisieren, in der die apokalyptischen Technikdiskurse des vergangenen Jahrhunderts sich vollends zu einem Reservoir der Bilder säkularisiert haben, aus denen sich Hollywoodfilme genauso bedienen wie Nachhaltigkeitsdiskurse in den Wissenschaften.

Dr. Wilhelm Berger ist a.o. Univ. Prof. am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Prodekan der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Leiter des Forschungsprojektes „Genetic Testing“, und stellvertretender Leiter des Universitätszentrums für Frauen- und Geschlechterforschung. Seine gegenwärtigen Forschungsvorhaben bewegen sich im Rahmen eines Verbunds mehrerer beteiligter Universitäten im Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft. Er ist, gemeinsam mit Günter Getzinger, Herausgeber des Buches „Das Tätigsein der Dinge. Beiträge zur Handlungsträgerschaft von Technik“ (2009).

21.45 – open end
Abschlussdiskussion und Resumee

Moderation
Arno Bammé (Klagenfurt) und Ingrid Reschenberg (Hamburg)

Das Symposion ist eine Veranstaltung der Sektion „Abendländische Epistemologie“ des „Amtes für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ im Berliner Haus der „Denkerei“ in Kooperation mit dem „Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung“ der „Alpen-Adria-Universität“ Klagenfurt. Die Referate werden in einem Tagungsband mit dem Titel „Schöpfer der zweiten Natur. Der Mensch im Anthropozän“ im Verlauf dieses Jahres der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Albrecht Dürer: Das große Rasenstück

Albrecht Dürer: Das große Rasenstück | Aquarell und Deckfarben, mit Deckweiß gehöht, auf Karton aufgezogen, 40,8 cm × 31,5 cm. Albertina (Wien)/Albrecht Dürer [Public domain], via Wikimedia Commons.